Stimmen meine Erinnerungen?

Dem zunehmenden Alter geschuldet, scheint das Langzeitgedächtnis aus seinem Schlummer zu erwachen und mir die absurdesten Bilder und Filmchen durch mein Gehirn zu schicken. Es gibt Tage und Nächte (oh, diese verfluchten Nächte), da werde ich mit Kaskaden von Erinnerungen überschwemmt. War das wirklich alles so? Stimmen diese Erinnerungen denn überhaupt?
 
Sie sind, keine Frage, wahrhaftig in dem Moment, in dem ich sie habe. Aber sie sind keine Wahrheiten, weil sie gefiltert sind durch meine Befindlichkeiten in diesem Augenblick, weil sie geschönt sind, weil sie Verdrängtes in ein neues Gewand kleiden, weil sie oft durch die Erinnerungen anderer Leute geprägt sind, weil sich ein bestimmter Blickwinkel über Jahre und Jahrzehnte verfestigt hat, weil dies und das fehlt oder dies und jenes hinzugefügt wurde. Weil abgerufene Erinnerungen immer in einem undurchschaubaren Prozess der Veränderung sind.
 
Unterm Strich sagen sie mehr über meinen momentanen Zustand denn über meine damalige Verfasstheit aus. Und doch sind sie wertvoll, weil sie, in all ihren Vielfältigkeiten und mit ihren Widersprüchen, mich zu der machen, die ich gerade bin.

Auf manche von ihnen könnte ich verzichten, einige bringen mich zum Lachen und andere rauben mir die Luft zum Atmen. Versöhnlich ist da bis jetzt noch gar nichts.   

Kinder-Verschickungs-Kuren - eine frühkindliche Basis meiner erwachsenen Albträume

 
Was für seltsame Erinnerungen da so auftauchen in meinem Kopf: Ich muss so um die sieben, acht Jahre alt gewesen sein. Auf einer Kinderverschickungskur irgendwo im Kleinen Walsertal.
 
Eine der „Erzieherinnen“ hatte wohl einen Narren an mir gefressen und ich habe ihr auf den ellenlangen Wanderungen – die nur zu unserem Besten stattfanden und die wir hassten – Geschichten erzählt. Erfundene Geschichten. Ich murmelte schon immer viel vor mich hin.
 
Sie dachte wohl, recht pädagogisch eifernd, sie hätte da ein kleines Talent vor sich und könnte sich mit dessen Entdeckung irgendwie hervortun. Also stellte sie mich an einem Mittag von der Nach-dem-Essen-Schlaferei großzügig frei, gab mir Papier und Stift und eine bunte Urlaubspostkarte. Ich sollte ihr dazu eine Geschichte aufschreiben.
 
Es schmeichelte mir. Ich meine mich zu erinnern, dass ich damals schon sehr genau blickte, was für eine Art von Geschichte sie von mir erwartete. So eine „Ferien-Urlaubs-Schulaufsatzgeschichte“. Aber, da war gar nix zum Andocken in mir.
 
Die Karte war ja real, sie hatte Kanten und Volumen und Farben und Geruch. Und keine Briefmarke. Sie hatte es wohl nicht bis zur Post geschafft. Warum wohl? Oh, klar, der kleine Junge, der sie von der Hütte auf dem Berg runter ins Dorf zur Post bringen sollte, hatte seine Zeit auf dem Weg mit Luftgucken und Rumhüpfen vertrödelt und als es dann dämmerte, über den Wipfeln und in seinem Gemüt, da rannte er querfeldein so schnell er konnte Richtung Dorf. Schaute nicht links, schaute nicht rechts und stürzte so gedankenlos unaufmerksam hastend in eine tiefe Grube. Da saß er nun, der arme Tropf. Verängstigt, hilflos und mit einem soooo schlechten Gewissen. Hatte die Mutter doch extra darauf hingewiesen, wie wichtig, ausgesprochen wichtig, diese Karte sei und dass sie unbedingt noch heute das Dorf verlassen müsste.
 
Was sollte er denn jetzt nur tun? Schreien und um Hilfe rufen, damit dann jeder mitbekäme, dass er die Karte nicht eingesteckt, sonder getrödelt und gespielt? Leise bleiben und die Nacht in der Grube verbringen, mitten im dunklen Wald? Er konnte sich so gar nicht entscheiden und so rollte er sich zusammen und weinte leise vor sich hin.
 
Die Nacht brach herein und ein Sturm kam auf und es regnete und er konnte sich so gar nicht mehr rühren, weil es in ihm gar erbärmlich zitterte und bebte. Irgendwann hörte er dann Stimmen und spürte wie jemand ihn aufhob. Zu Hause trug ihn sein Vater hinauf in seine Koje und die Mutter saß noch lange an seinem Bett und streichelte und herzte ihn. Die Karte lag vergessen im Schlamm in der Grube und niemals wieder wurde nach ihr gefragt.
 
Die „Tante Erzieherin“ fand diese Geschichte blöd, weil sie ja etwas ganz anderes erwartet hatte. Sie habe sich wohl in mir geirrt, meinte sie in diesem klein machenden Tonfall beim gemeinsamen Abendessen vor allen Kindern, und ich müsse, so zum gerechten Ausgleich, weil ich ja die Mittagsschlafstunden quasi umsonst frei bekommen hätte, nun halt die nächsten drei Tage zusätzlichen Küchendienst machen.
 
Wenn ich mich recht entsinne, habe ich ab da für eine lange Zeit keinem Erwachsenen mehr eine Geschichte erzählt und mir auch beigebracht nur noch leise, so innen drin für und vor mich hin zu murmeln.
 
Warum erzähle ich Dir das? Weil da, mit der Erinnerung, die ja urplötzlich, ohne Hauch einer Ankündigung, in mir hoch kam, auch die Gefühle dazu plötzlich da waren. Da war ein Gefühl von Stolz und Freude über die Aufmerksamkeit der Erzieherin. Da war ein Gefühl von Hochmut den anderen Kindern gegenüber. Da war ein wenig Verzweiflung, da ich ja wusste, welch eine Geschichte sie eigentlich hören wollte. Da war ein Mut und ein trotziges Wollen in mir, sie doch ganz anders aufzuschreiben. Da war auch ein wenig Zorn, auf sie und mich, weil sie so enttäuscht war. Da war ein wenig Aufsässigkeit in dem Gedanken: "Dann schreib dir doch deine Geschichte selber!" und da war eine tiefe Verletztheit wegen der Strafe und wegen der Scham (oh ja, die anderen Kinder haben mir meinen vorherigen Hochmut sehr fein bösartig wieder heimgezahlt).
 
Und da war heute eine tiefe Traurigkeit, als ich mir das kleine Mädchen so ansah und die Verletzung von damals nahm mir heute, als alte Frau, von jetzt auf gleich die Luft weg. Und endlich, endlich konnte ich alle diese Gefühle im Schnelldurchgang ausleben und zuordnen und es dann gut sein lassen und die Kleine innerlich in den Arm nehmen und ihr sagen: "Ich finde deine Postkarten-Geschichte schön und dein Verhalten war okay. Punkt."

Und damit ist es gut jetzt, endlich - für damals und für heute. Und das ist wunderbar. Doppelpunkt.

Lene, Lene, beug das Knie. Nie!

Menschen, die mir nah waren und sind, rufen mich Lene. Ich erinnere mich nicht, dass jemand mich mal zärtlich Lenchen rief. Auch nicht der Großvater. Der hatte eh mächtigen Ärger am Hals, weil er den von den Weibsleuten ausgesuchten Namen für mich auf dem Weg zum Standesamt verschusselte. Irgendwas mit H und kleinem e meinte er sich zu erinnern. Also nahm er halt das erstbeste was ihm dort vor Aufregung einfiel. Helene.

„Helene“ brüllte seine Frau durch die winzige Wohnung und ich wusste, dass es nun schlimm, wirklich schlimm werden würde. In gebeugter Haltung schlug sie den Kochlöffel und ihren Selbsthass in Stücke auf mir entzwei. Erst wenn meine Knie den Boden berührten hatte sie Erbarmen. Es war jedes Mal ein Kampf um jeden Millimeter. Doch immer versagte am Schluss mein Körper und brach.
 
Im dunklen Zimmer setzte ich ihn danach wieder und wieder zusammen. Teile gingen verloren. Sicherlich.
 
Anschließend ging sie meistens mit mir in den Woolworth. Dort gab es dann heißes Hähnchen. Sie erzählte dabei viel. Kein einziges Wort blieb bei mir hängen außer das „Erzähl dem Opa nichts davon!“. Lange, lange Jahre dachte ich, sie meine damit das frugale Mahl, denn Fleisch gab es sonst bei uns nur an den Sonntagen. Heute weiß ich, sie meinte die Schläge.

Das Kniebeugen war mir für lange Zeit ein Widerliches.

Liebe? Ach, komm mir nicht mit diesem Scheiß!

"In Krieg, Prozess und glaubensloser Zeit,
Ist es nicht Wahnsinn, Liebe zu besingen?
Man mag die Irren in die Anstalt bringen,
Doch mich, den Irrsten, hat man daraus befreit."

Pierre de Ronsard (1524-1585): Sonette für Hélène


Die Liebe? Vielleicht später. Hier sei nur angemerkt, dass ich mich zeit meines Lebens mit den Fragen gequält habe: Werde ich geliebt? Kann ich lieben? Wie fühlt sich Liebe an? Kann man sie riechen, schmecken, berühren?

Antworten? Sind meinen jeweiligen, tagesabhängigen, Befindlichkeiten geschuldet. Vielleicht schälen sich aus den Fragmenten irgendwann unverzerrte Bildfolgen heraus. Wenn nicht, dann halt nicht. Gegrämt wird sich so oder so.  


Kraniche

Meine letzten Lebensjahre wollte ich schon immer in Rom verbringen. Dort sterben.
 
Aber, das Geld wird nicht reichen, der rechte Dreck erhebt auch dort sein bleichbraunes Haupt. Zweifel drängen sich in den Vordergrund. Verschieben wir es, noch brechen die alten Knochen nicht.

Doch nun tanzt Madame Corona. Meine Träume verhungern ächzend in der abgestandenen Luft unter der Maske.
 
So sitze ich atemlos im Bus und schaue voll trauriger Sehnsucht den Zugvögeln nach. Warum beschließen wir hier drinnen nicht gemeinsam einfach weiter, weiter, weiter zu fahren. Habt Mut, habt Mut, habt doch Mut!


Ach nein, die Kläglichkeit gewinnt. Ich weine. Leise.



Springen

In frühesten Träumen entkam das Kind dem Alb, indem es sich aus höchsten Höhen in die Tiefe stürzte. Welch unermesslicher Schrecken, wenn da kein Turm, keine Treppe, keine steile Felswand war, die es erklimmen konnte, sondern nur öde, kahle, plattgedrückte Landschaft, durch die es verzweifelt rannte.
 
Welches Schreckgespenst kann eine derartige Angst auslösen, dass nur der Sprung ins tödliche Nichts ihm Erlösung versprach? Was hat man dir angetan, Kleines, dass du es im Traum auf diese Art und Weise verarbeiten musstest?

Ich ersticke am Leid der anderen

Ich will das nicht mehr. Kann mich jedoch nicht wehren dagegen.

Krämpfe gegen all den Schmerz und der Verteuflung eben dieses Wehs.
 
Ich will mich nicht mehr kümmern.  

Will nicht mehr des Weltschmerzes willige Mülltonne sein.
 
Ich kleines, egoistisches Arschloch.