Kinder-Verschickungs-Kuren - eine frühkindliche Basis meiner erwachsenen Albträume

 
Was für seltsame Erinnerungen da so auftauchen in meinem Kopf: Ich muss so um die sieben, acht Jahre alt gewesen sein. Auf einer Kinderverschickungskur irgendwo im Kleinen Walsertal.
 
Eine der „Erzieherinnen“ hatte wohl einen Narren an mir gefressen und ich habe ihr auf den ellenlangen Wanderungen – die nur zu unserem Besten stattfanden und die wir hassten – Geschichten erzählt. Erfundene Geschichten. Ich murmelte schon immer viel vor mich hin.
 
Sie dachte wohl, recht pädagogisch eifernd, sie hätte da ein kleines Talent vor sich und könnte sich mit dessen Entdeckung irgendwie hervortun. Also stellte sie mich an einem Mittag von der Nach-dem-Essen-Schlaferei großzügig frei, gab mir Papier und Stift und eine bunte Urlaubspostkarte. Ich sollte ihr dazu eine Geschichte aufschreiben.
 
Es schmeichelte mir. Ich meine mich zu erinnern, dass ich damals schon sehr genau blickte, was für eine Art von Geschichte sie von mir erwartete. So eine „Ferien-Urlaubs-Schulaufsatzgeschichte“. Aber, da war gar nix zum Andocken in mir.
 
Die Karte war ja real, sie hatte Kanten und Volumen und Farben und Geruch. Und keine Briefmarke. Sie hatte es wohl nicht bis zur Post geschafft. Warum wohl? Oh, klar, der kleine Junge, der sie von der Hütte auf dem Berg runter ins Dorf zur Post bringen sollte, hatte seine Zeit auf dem Weg mit Luftgucken und Rumhüpfen vertrödelt und als es dann dämmerte, über den Wipfeln und in seinem Gemüt, da rannte er querfeldein so schnell er konnte Richtung Dorf. Schaute nicht links, schaute nicht rechts und stürzte so gedankenlos unaufmerksam hastend in eine tiefe Grube. Da saß er nun, der arme Tropf. Verängstigt, hilflos und mit einem soooo schlechten Gewissen. Hatte die Mutter doch extra darauf hingewiesen, wie wichtig, ausgesprochen wichtig, diese Karte sei und dass sie unbedingt noch heute das Dorf verlassen müsste.
 
Was sollte er denn jetzt nur tun? Schreien und um Hilfe rufen, damit dann jeder mitbekäme, dass er die Karte nicht eingesteckt, sonder getrödelt und gespielt? Leise bleiben und die Nacht in der Grube verbringen, mitten im dunklen Wald? Er konnte sich so gar nicht entscheiden und so rollte er sich zusammen und weinte leise vor sich hin.
 
Die Nacht brach herein und ein Sturm kam auf und es regnete und er konnte sich so gar nicht mehr rühren, weil es in ihm gar erbärmlich zitterte und bebte. Irgendwann hörte er dann Stimmen und spürte wie jemand ihn aufhob. Zu Hause trug ihn sein Vater hinauf in seine Koje und die Mutter saß noch lange an seinem Bett und streichelte und herzte ihn. Die Karte lag vergessen im Schlamm in der Grube und niemals wieder wurde nach ihr gefragt.
 
Die „Tante Erzieherin“ fand diese Geschichte blöd, weil sie ja etwas ganz anderes erwartet hatte. Sie habe sich wohl in mir geirrt, meinte sie in diesem klein machenden Tonfall beim gemeinsamen Abendessen vor allen Kindern, und ich müsse, so zum gerechten Ausgleich, weil ich ja die Mittagsschlafstunden quasi umsonst frei bekommen hätte, nun halt die nächsten drei Tage zusätzlichen Küchendienst machen.
 
Wenn ich mich recht entsinne, habe ich ab da für eine lange Zeit keinem Erwachsenen mehr eine Geschichte erzählt und mir auch beigebracht nur noch leise, so innen drin für und vor mich hin zu murmeln.
 
Warum erzähle ich Dir das? Weil da, mit der Erinnerung, die ja urplötzlich, ohne Hauch einer Ankündigung, in mir hoch kam, auch die Gefühle dazu plötzlich da waren. Da war ein Gefühl von Stolz und Freude über die Aufmerksamkeit der Erzieherin. Da war ein Gefühl von Hochmut den anderen Kindern gegenüber. Da war ein wenig Verzweiflung, da ich ja wusste, welch eine Geschichte sie eigentlich hören wollte. Da war ein Mut und ein trotziges Wollen in mir, sie doch ganz anders aufzuschreiben. Da war auch ein wenig Zorn, auf sie und mich, weil sie so enttäuscht war. Da war ein wenig Aufsässigkeit in dem Gedanken: "Dann schreib dir doch deine Geschichte selber!" und da war eine tiefe Verletztheit wegen der Strafe und wegen der Scham (oh ja, die anderen Kinder haben mir meinen vorherigen Hochmut sehr fein bösartig wieder heimgezahlt).
 
Und da war heute eine tiefe Traurigkeit, als ich mir das kleine Mädchen so ansah und die Verletzung von damals nahm mir heute, als alte Frau, von jetzt auf gleich die Luft weg. Und endlich, endlich konnte ich alle diese Gefühle im Schnelldurchgang ausleben und zuordnen und es dann gut sein lassen und die Kleine innerlich in den Arm nehmen und ihr sagen: "Ich finde deine Postkarten-Geschichte schön und dein Verhalten war okay. Punkt."

Und damit ist es gut jetzt, endlich - für damals und für heute. Und das ist wunderbar. Doppelpunkt.